Interview. Vizerektorin Barbara Putz-Plecko der Universität für angewandte Kunst Wien spricht bei ihrem Besuch an der FH Vorarlberg über das Potenzial der künstlerischen Arbeit, das Aufzeigen von Möglichkeiten und die Bedeutung, die Welt als gestaltbar zu erfahren.

Welche Optionen entstehen durch künstlerische Arbeit im sozialen Raum?

Künstlerische Arbeit trägt in ihrem Wesen etwas Mehrperspektivisches – ein offenes Schauen und Verstehen-wollen, ein inspiriertes Vorgehen. Die künstlerische Praxis bezieht sich zwar immer auch auf das Gelernte, ich glaube aber, dass sie an Grenzen denkt und nicht das Bekannte wiederholt, sondern nach anderen Möglichkeiten fragt. Damit bringt die künstlerische Arbeit ein Potenzial für alle möglichen Bereiche des Lebens mit.

Das heißt, das Potenzial der Kunst liegt darin, an Grenzen zu kommen?

Was ich an künstlerischer Arbeit sehr wichtig finde, ist, dass es nicht darum geht, die eine Wahrheit entwickeln zu glauben. Kunst sucht nach Möglichkeiten des Verstehens und entwirft mögliche Sichtweisen und Konstellationen. Und sie hört nicht auf, sondern setzt immer einen nächsten Versuch nach.

In Ihrem Vortrag an der FH Vorarlberg sagten Sie: „Business as usual funktioniert nicht mehr.“ Wie gelingt es Ihnen, die Studierenden und auch die Betrachter Ihrer Kunstwerke zum Brechen der Routine zu inspirieren?

In der künstlerischen Arbeit gibt es unterschiedliche Phasen. Eine erste ist die Phase in der ich suche, etwas entdecke, etwas wiederhole. Wie beispielsweise in der Musik, ist Übung ein Teil der künstlerischen Praxis. Dann wird aber doch klar, dass die reine Übung noch keinen Künstler oder keine Künstlerin oder künstlerische Arbeit daraus macht. Ein ausgezeichnetes Vermögen, etwas, das ich beobachte, wiederzugeben – das allein macht es nicht. Interesse und Freude am Unbekannten kann eine gute Motivation sein, Routinen hinter sich zu lassen.

Was also macht Kunst aus?

In der Kunst geht darum, sinnstiftend zu werden und über die Übung und Routine hinauszugehen. Es tut nicht gut – das zeigt die künstlerische Praxis schnell –, das, was man längst kann und weiß, permanent zu wiederholen. Es wird für einen selbst unbefriedigend und ist höchstens in der Logik  des Kunstmarktes interessant.

Ruft der Markt zur Wiederholung auf?

Ja – auf dem Markt muss man wiedererkennbar sein, die Abweichungen dürfen nicht zu groß sein. Allerdings, wirklich gute Künstlerinnen und Künstler wiederholen sich deshalb trotzdem nicht ständig. Meistens drängt einen ja etwas in der Arbeit, das sich dann eben nicht ökonomischen Regeln unterwirft.

Wo liegen die Themen der modernen Kunst?

Von „der“ Kunst zu sprechen ist schwierig – es gibt eine solche Bandbreite der künstlerischen Praxen wie nie zuvor. Kunst ist jedenfalls auch immer eine gesellschaftliche Vereinbarung. Gegenwärtig fällt mir auf, dass sich gerade politische Themen, Herausforderungen und ungelöste Fragestellungen künstlerisch manifestieren. Was sich in den letzten zwei, drei Jahren abgespielt hat, konnte an Künstlerinnen und Künstlern nicht einfach vorbeigehen.

„In Bildungsdiskussionen wird das Potenzial künstlerischer Arbeit aber viel zu wenig begriffen.“

In Ihrem Vortrag fiel der Begriff „Überlebensstragie“. Macht die österreichische Politik die Anerkennung der Kunst zu wenig geltend?

Es gehört zum Selbstverständnis und zur österreichischen Selbstdarstellung, sich als Kulturland zu bezeichnen. In Bildungsdiskussionen und in bildungspolitischen Entscheidungen wird das Potenzial künstlerischer Arbeit aber viel zu wenig begriffen. Über künstlerische Gestaltungsprozesse kann ein junger Mensch die Welt untersuchen, sie begreifen und als gestaltbar erfahren. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich viele große Pädagogen wie Tagore in Indien, Dewey in Amerika oder Pestalozzi in der Schweiz sich sehr dafür engagiert haben. Sie alle haben die Bedeutung von kreativen und künstlerischen Prozessen für unsere Selbst- und Welterfahrung und für ein verantwortungsvolles soziales Mitwirken erkannt. Man würde immens profitieren, das in seiner gesellschaftlichen Tragweite zu erkennen. Aber es wird nicht gesehen.

Weshalb wird es nicht gesehen?

Ich glaube, weil jene, die Entscheidungen darüber treffen, vielleicht selbst nie wirklich diese Potenziale im Künstlerischen erfahren haben. Weil man vielleicht bloß in künstlerischen Bereichen trainiert wurde. Training gibt oft zu wenig Entwicklungsraum, die Welt und die eigene Kreativität zu entdecken. Ich sage das als eine, die selbst viele Jahre Klavier in sehr konventioneller Art und Weise gelernt hat. Es tut mir heute noch wahnsinnig leid, dass darüber die Nähe zum Instrument verloren gegangen ist. Es braucht Freiräume für dieses Sich-Einlassen in künstlerische Ausdrucksformen, die ein Sich-Vertiefen in eine Erfahrung und Praxis ermöglichen, die jenseits des Trainings liegen. Wenn wir diese Räume nicht früh genug kennenlernen, glaube ich, dass kreative und künstlerische Ausdrucksweisen für uns Fremdsprachen bleiben: Es gibt sie, aber ich habe nicht gelernt, sie mir zu erschließen. Ein Schatz bleibt ungehoben.

Was bedeutet „früh genug“. An welches Alter denken Sie?

Von Anfang an. Es ist wichtig, dass ein Kind einen selbst verwalt- und nutzbaren Raum vorfindet, irgendein Plätzchen, an dem es seine Versuche machen darf. Und wenn das ist, Steinchen auf Steinchen zu setzen oder Hölzchen an Hölzchen zu legen. Wird dieser offene Entwicklungsraum von älteren Generationen für jüngere nicht geschaffen, wird es schwierig. Wenn in allem, was einen umgibt, einfach nur das vorgefertigte Produkt zählt. Eltern müssten hier weitsichtiger und sensibler sein. Sind Abweichungen nicht erlaubt, zerstört das jedes Zutrauen in den eigenen Lösungsweg  und die persönliche Kreativität. Aber gerade darum geht es im Leben.

Welche Schritte müssten gesetzt werden, um heute dieser Entwicklung entgegenwirken?

Ich sehe eine ganz wesentliche Aufgabe in der Bildungspolitik. Es braucht Räume, in denen Kinder das künstlerische Tun als etwas Lustvolles, Spannendes und Erkenntnisreiches erleben. In den Kindergärten braucht es unbedingt eine Unterstützung der kindlichen Äußerung, die dem Alter entspricht, und keinen Stress bei den Betreuungspersonen, die Kinder zu einem vorbestimmten gestalterischen Ergebnis zu bewegen. Wenn ich einem Kind Ausmalbögen gebe, weil die zum  „schöneren“ Bild führen, signalisiere ich dem Kind: Walt Disney hat es besser gelöst als du. Es mag gut gemeint sein, aber ganz schnell wird das Kind sein eigenes Vermögen selbst als nicht mehr als ausreichend „cool“ erleben und die Vorlage suchen. Es braucht unsere wertschätzende Aufmerksamkeit für das, was unsere Kinder machen, ohne ihnen unsere ästhetische Zwangsjacke aufzudrücken. Unsere Zwangsjacke wird ansonsten auch die unserer Kinder. Nur so können Kinder begreifen, dass die Welt gestaltbar ist und dass ihre Gestaltung, ihr Beitrag, etwas zählt.

Wie wünschen Sie sich persönlich die Gestaltung der Zukunft?

Ich würde mir wünschen, dass wir über den Tellerrand schauen und uns der Ungleichheit auf dieser Welt bewusst werden. Ich habe den Eindruck, wir leben zu sehr in einer Blase. Ich würde mir wirklich wünschen, dass wir Vertrauen in die Öffnung entwickeln, auch Unsicheres wagen, dass wir Mut finden, neue Bewegungen zu versuchen – ein Stück risikofreudiger und kreativer –  und das wir dann mit Interesse und Wachheit schauen, was uns begegnet. Meine Lebenserfahrung ist, dass ein offener Blick einen anderen offenen Blick trifft. Die Welt verschließt sich nicht, sondern öffnet sich.

Zur Person

Univ.-Prof. Mag.art. Barbara Putz-Plecko (61) ist seit 2007 Vizerektorin der Universität für angewandte Kunst Wien und Vorständin der Abt. Kunst und kommunikative Praxis sowie der Abt. Textil. Die Kärntnerin studierte an der Universität für angewandte Kunst Wien, an der Akademie der bildenden Künste in Wien und München sowie an der Universität Wien. Seitdem ist sie als Lehrende an diversen Kunstuniversitäten tätig. Ihre Schwerpunkte in Lehre und Forschung liegen in transversalen, transkulturellen künstlerischen Praxen, u.a. auch in Projekten in Afrika.