100 Punkte und keinen mehr darf ein Mensch täglich verbrauchen, um ökologisch nachhaltig zu leben. Ob das zu schaffen ist und wie so ein Tag aussehen könnte. Selbstversuch von marie-Redakteurin Christina Vaccaro.

Heute ist ein besonderer Tag. Denn heute soll ein guter Tag werden – einer mit hundert Punkten. Hundert Punkte für mein Dasein und seine ökologischen Folgen. Am Frühstückstisch halte ich auf einem Notizzettel fest, was ich zu mir nehme: 0,7 Liter Kräutertee und ein Glas Orangensaft (ich weiß, ich trinke viel), zwei Scheiben Mischbrot, dazu Butter, Fairtrade-Bio-Haselnuss-Nougat-Creme und Humus. Später am Vormittag berechne ich, dass ich durch dieses nicht gerade üppig ausgefallene Mahl bereits zwölf Punkte auf mein Konto geladen habe. Da staune ich nicht schlecht, vor allem über die sechs Punkte, die mir allein die Portion Butter beschert hat. Zum Glück habe ich heute keinen Kakao getrunken und keinen Käse gegessen, denke ich mir. Milchprodukte haben es einfach in sich.

Wer denkt, ganz oben auf meiner Punkteliste steht das Frühstück, hat weit gefehlt. Alleine die Tatsache, dass ich heute lebendigen Seins die Augen aufgeschlagen habe, belastet mein Konto mit 31 Punkten. Das ist nämlich der Basiswert für den öffentlichen Konsum in Österreich, in dem etwa die Heizung aller öffentlichen Gebäude oder der Bau von Straßen enthalten sind. Im Übrigen sind wir dank höherem Anteil erneuerbarer Energien besser als die Deutschen, da wären es 43 gewesen, aber schlechter als die Schweizer, dort sind es nur 24 Punkte. Doch 31 – das geht schon. Es bleiben noch 69 Punkte, über die ich selbstverantwortlich verfüge. Minus 12 fürs Frühstück, macht 57. Minus 3 für die Tageszeitung, die ich beim Frühstück gelesen habe. Also 54 für den restlichen Tag. Und es ist gerade mal 9 Uhr früh. Nun gut, denke ich mir, bring es hinter dich: Zieh noch weiter ab, was unvermeidlich ist! Etwa die Laufzeit meines Laptops, die ungefähr acht Stunden betragen wird (ich arbeite im Home Office). Das sind dankenswerterweise nur 0,4 Punkte. Zusätzlich werde ich heute ungefähr 50 Mal die Internetsuche benutzen, das sind schwache 0,3 Punkte. Ein leichtes Triumphgefühl macht sich nun in meiner Brust breit. Na also, geht doch.

Ein Blick in meinen Terminkalender zeigt, dass ich heute drei Termine habe, zwei davon in Dornbirn, wo ich wohne und wo ich mit dem Fahrrad hinfahren und genüsslich null Punkte verbrauchen werde, und der dritte in Bregenz. Der Punkterechner sagt mir, dass 30 Kilometer Zugfahrt mit den ÖBB sechs Punkte sind. Auch nicht schlecht. Neugierig und mit dieser leicht absurden Gier, ähnlich der, die man nach dem Kauf vergünstigter Produkte im Supermarkt empfindet und die einen sofort nach deren Bezahlung auf den Kassenzettel blicken lässt, um zu sehen, wie viel Geld man sich gespart hat. So ähnlich schaue ich nun, was mich 30 Kilometer Autofahrt gekostet hätten. Je nach Autotyp wären es zwischen 46 (Renault Clio) und 71 (Audi A3) gewesen. Doch es kommt noch besser. Der Punkterechner sagt mir, dass allein der Besitz eines kleinen bis mittleren Benziners mit einer Lebensdauer von 5 Jahren, der von 1,5 Personen benutzt wird, 28 Punkte ausmacht. Täglich. Bei einer Lebensdauer von zwei Jahren wären es sage und schreibe 70 Punkte. Nur fürs Besitzen, ohne einen Meter gefahren zu sein. Ein breites Lächeln zieht sich nun über mein Gesicht, denn ich besitze kein Auto.

Doch wie viel wird mich wohl das Eigentum eines Laptops kosten? Meine alte „Kiste“ ist immerhin schon sechs Jahre alt. Ein Jahr werde ich mich aber noch damit herumplagen, deshalb gebe ich eine Nutzungsdauer von sieben Jahren ein. Macht 0,6 Punkte. Ein Kinderspiel, denke ich mir. Und hier wendet sich das Blatt. Denn als nächstes berechne ich, was meine Heizkosten an Punkten verursachen. Seit kurzem lebe ich in einem großen, älteren und schlecht isolierten Haus mit drei Parteien. Insgesamt verbrauchen wir zu fünft jährlich – noch von den Vormietern geschätzt – 2500 Kubikmeter Erdgas. Als ich das in den Punkterechner eingebe, knallt er mir eine Zahl an den Bildschirm, die ich schier nicht glauben will. Ich schlage die Hände über dem Kopf zusammen. Das gibt es nicht! Das kann einfach nicht wahr sein … Ich schlucke und blicke entsetzt nochmals auf diese Zahl. 40 (!) Punkte?!

Das ist mein Untergang als passionierte und bekennende Ökotante. Ich, die ich die 1400 Kilometer nach Birmingham bereits zwei Mal in mühsamster Anstrengung im Zug zurückgelegt habe, um nur 288 Punkte anstatt die fünftausendeinhundertsieben-undvierzig Punkte eines komfortablen Fluges auf mein Gewissenskonto buchen zu müssen, eine unbedachte Aus-dem-Fenster-Heizerin? Vielleicht ist es kein politischer Weltuntergang, aber doch ein moralischer. Zumindest ist es der Untergang des heutigen Tages, der ein guter Tag hätte werden sollen. Mit diesen 40 Punkten hat mein Ein-guter-Tag-Punktekonto 93,2 Punkte erreicht. Ich rufe in Erinnerung: es ist 9 Uhr früh. 10 Punkte werden noch für einen Waschgang nach meinem Sporttraining heute Abend aufs Konto kommen (ohne Weichspüler und ohne Trockner, sonst wären es 30 Punkte), vier Punkte fürs Duschen (22 Liter – 40°C). Ach nein, für die Waschmaschine benutze ich ja die Zeitvorwahl, damit ich Nachtstrom nutze, das fällt also nicht mehr auf den heutigen Tag. Mit dem Duschen sind es trotzdem bereits 97,2 Punkte. Und Mittagessen und Abendessen kommen noch dazu. Und sonst noch etwas vielleicht?

„Das ist mein Untergang als passionierte und bekennende Ökotante.“

Jetzt bin ich ganz schön niedergeschlagen. Soll ich heute nichts mehr essen? Dann würde ich es vielleicht sogar hinbekommen, zum Training fahre ich auch mit dem Fahrrad. Mittags bin ich bei einer Bekannten eingeladen. Vielleicht könnte ich das auf ihr Punktekonto schieben?

Aber nein. Wenn man es ganz, ganz genau nimmt, müsste man für alles, was man besitzt, einen kleinen Wert, über den Daumen gerechnet durchschnittlich um die 0,1 Punkte herum, dazuzählen. Also für jedes Schuhpaar, für jede Tasche, jeden Pullover – ich denke, es ist anschaulich, wie viele Mini-Summen da noch dazu kommen. Die Ausnahme ist hier übrigens das Smartphone. Bei einer Nutzungsdauer von fünf Jahren (in meinem Fall durchaus realistisch) „bezahle“ ich täglich mit 2 Punkten. Nach dem Mittagessen bin ich bei 114,2 Punkten angelangt. Zum Glück war es ein vegetarisches Gericht, sonst wäre da realistisch die doppelte Punktemenge dazugekommen. Immer noch fassungslos über die 40 Punkte teure Heizungsgeschichte, gehe ich nochmals auf die Umrechnungsseite, die mir die Kilowattstunden-Summe der Gasrechnung in Kubikmeter umgewandelt hat. Meine Umrechnung stimmt – bei einem Brennwert von 8. Diese Zahl war als Standard dort eingeben, beim Klicken auf das Brennwertfeld tut sich aber eine Bandbreite von Brennwerten zwischen 8 und 12,5 auf. Ich habe keine Ahnung, welchen Brennwert unsere Gasheizung hat. Diplomatisch probiere ich es deshalb mal mit Brennwert 10, das erscheint mir fair. Das sind dann anscheinend nur mehr 2000 Kubikmeter – und damit 32 anstatt 40 Punkte. Somit fällt mein Punktekonto auf den Wert 106,2. Schon besser, denke ich mir. Jetzt kommt nur noch das Abendessen dazu (oder doch nicht?). Schlussendlich siegt der Hunger und ich verzehre ein Ei (3 Punkte), einen selbstgemachten Rote-Beete-Salat (geschätzt 0,5 Punkte), Brot (0,9) mit Butter (6). Damit endet das Punktesammeln für diesen Tag und mein Punktekonto beträgt 116,6.

Und was ist die Moral von der Geschicht‘? Am Ende des Tages bleibt wenn auch kein Sieg, so aber höchstens eine kleine Niederlage. Rund 117 Punkte, das ist vertretbar, finde ich. Vor allem im Vergleich mit dem Durchschnittsösterreicher, der gut und gerne auf 450 Punkte täglich kommt. Ein Grund, sich deswegen besser zu fühlen, ist das keiner. Ein Grund, weiterhin ehrgeizig zu sein und die persönliche Messlatte höher zu legen anstatt sich am gesellschaftlichen Normalwert zu orientieren, ist das allemal. Schließlich möchte ich, dass meine Kinder auch einmal intakte Natur kennen und erleben lernen dürfen. Da sind 450 Punkte täglich einfach nicht drin.


Die Initiative „Ein guter Tag hat 100 Punkte“ wurde 2011 von Kairos – Institut für Wirkungsforschung & Entwicklung, Bregenz, und Integral Ruedi Baur, Zürich, ins Leben gerufen. 100 Punkte entsprechen einem CO2-Ausstoß von 6,8 Kilogramm und damit jener Menge, die jeder Mensch ausstoßen darf, ohne das Klima zu schädigen. Der Punkterechner soll die Klimawirksamkeit von Produkten und Handlungen in einer global gültigen Währung wiedergeben und dabei helfen, einen nachhaltigen Lebensstil zu entwickeln. Mehr Informationen unter www.eingutertag.org oder www.kairos.or.at, www.irb-zurich.eu.


Veröffentlich in der marie – Die Vorarlberger Straßenzeitung, Ausgabe 23