Wie wir die Einheit aller Dinge erkennen, was Religion eigentlich bedeutet, wonach das »Selbst« sucht und warum wir Konzepte nutzen, aber nicht von ihnen benutzt werden sollten, darüber spricht Zen-Meister Eran Junryu Vardi.

Interview und Übersetzung von Christina Vaccaro, Fotos von Yvonne Vardi

Sie sind in Israel aufgewachsen. Wie haben Sie den israelisch-palästinensischen Konflikt erlebt und welche Rolle hat Religion darin gespielt?
Vardi: Sterbenden Menschen ausgesetzt zu sein, die ihr Leben nicht wegen Krankheit oder hohen Alters verlieren, sondern als Folge von Hass und Gewalt, führte dazu, dass ich mich von klein auf fragte, was die Ursache von Konflikten ist. Ich konnte nicht verstehen, weshalb wir kämp(en. Die Gründe dafür waren natürlich Landbesetzung und teils Religion. Doch die eigentliche Ursache ergab keinen Sinn für mich.

Was hat Sie zum Buddhismus geführt?
Die östliche Philosophie zog mich bereits als junger Mensch an. Ich begann zu sehen, dass die eigentliche Ursache für Kon’ikt und Widerstreit in jedem Einzelnen von uns liegt. Als Individuum trage ich einen Mikrokosmos desselben Kon’iktes in mir, den ich in Israel täglich erlebte. Folglich muss die Arbeit, die Welt zu verändern, in uns geschehen. Zur Meditation kam ich in einem Yogazentrum, das Sitzen in seinem Programm integriert hatte. Gleichzeitig zog es mich zum Judo, weil ich spürte, dass Spiritualität einen physischen Aspekt besitzt – auch wenn ich damals noch nicht verstand, weshalb. Später drückte sich mein Interesse an Kampfkunst im Aikido aus, welches seit 30 Jahren einen großen Teil meines spirituellen wie professionellen Lebens ausmacht.

Wie würden Sie diesen physischen Aspekt von Spiritualität beschreiben?
Er ist eine Manifestation. Im Buddhismus sprechen wir von Leere und Form, wobei Leere das Göttliche und Form das Menschliche meint. Leere manifestiert sich durch Form. Wenn wir uns der Form zuwenden und in ihr die Manifestation der Leere sehen, ist uns das Göttliche durch die Formen des Menschseins zugänglich. Wir nähern uns dem Formlosen durch die Form.

Ist der Zen-Buddhismus eine Religion, eine Philosophie oder etwas anderes?
In dieser Frage steckt die Annahme, dass wir wüssten, was Religion, was Nicht-Religion, was Philosophie ist … doch Zen fordert uns auf, die Frage zu untersuchen und die Antwort mehr in der Frage selbst als in der Antwort zu sehen. Das Wort „Religion“ kommt vom lateinischen „re-ligare“, was „sich wieder verbinden“ heißt. Es bedeutet, das Göttliche und das Menschliche zu vereinen. Wenn wir fragen, „Ist Zen eine Religion?“, tun wir das mit einem Bild von Religion ohne dem Verständnis, dass Religion Leere und Form vereint. Wir sollten nicht Konzepte mit Konzepten vergleichen, sondern nach der Realität Ausschau halten.

Sind Konzepte nicht ein nützliches Hilfsmittel zum Denken?
Natürlich! Konzepte sind wichtig und wir müssen von ihnen Gebrauch machen. Doch es ist eine Sache, sie zu nutzen und eine andere, von ihnen bestimmt zu werden. Wir dürfen uns nicht in einer Welt voller Konzepte verlieren.

Also ist es gleichgültig, ob Zen-Buddhismus eine Religion ist oder nicht?
Im Zen betrachten wir Erleuchtung als eine religiöse Erfahrung, denn wir erkennen, dass alle Dinge zu allen Zeiten eins sind. Dualität – und in vielen Fällen verbringen wir unsere ganze Lebenszeit damit, in ihr zu leben – fällt plötzlich ab. Dem Buddhismus ist es jedoch gleichgültig, ob er eine Religion ist oder nicht oder wie wir ihn sonst konzeptualisieren. Wir brauchen Definitionen, doch wir müssen vorsichtig sein, keinen leeren Himmel einschachteln zu wollen. Wenn wir etwas definieren, dann be-grenzen wir es auch. Zen fordert uns auf, Definitionen und Gedanken über die Realität hinter uns zu lassen und diese direkt wahrzunehmen, anstatt nur das, was wir über sie denken. Warum zerstören wir uns und den Planeten? Weil wir uns mit Ideen identifizieren. Sich zu identifizieren heißt, eins mit einer Idee zu werden. Und dann enden wir damit, uns für Ideen zu töten, denn wenn meine Idee angegriffen wird, werde ich angegriffen. Solange der Mensch von seinem Ursprung getrennt ist, ist er auf der Suche, sich mit etwas wiederzuverbinden.

Sind wir dann, da wir doch in Menschengestalt auf dieser Erde wandeln, dazu verurteilt, ständig zu suchen?
Gewissermaßen gibt es etwas in jedem von uns, das nach Hause gehen möchte. Im Zen wollen wir einen Weg finden, zu suchen, ohne zu suchen. Der Buddhismus sagt dir, dass du von Beginn an Buddha, das heißt komplett bist. Deine Ganzheit steht nicht infrage, du bist perfekt – das ist ein Geburtsrecht. Ein Sprichwort drückt es so aus: „Dies ist das reine Land, doch wir müssen es dazu machen.“ Reinheit ist inhärent, doch es liegt an uns, sie zu verwirklichen. Wir können sie ignorieren oder wir lassen uns von unserer wahren Natur leiten, anstatt einer konzeptualisierten Version von uns zu folgen.

Was ist das »Selbst«?
Wenn wir über das »Selbst« sprechen, denken wir an die Person, die wir im Spiegel sehen, die herumgeht, isst, trinkt, lacht, weint. Betrachten wir ein Bild von uns, das 10, 30 oder 40 Jahre alt ist, ist es offensichtlich, dass das nicht das gleiche »Ich« ist. Wenn wir es ehrlich anschauen, erkennen wir, dass das, was ich festes »Ich« nenne, nicht mehr als ein Schnappschuss dieses Moments ist. Ich versuche, etwas einzufangen, das nie anhält. Das ist keine Philosophie! Sogar wissenscha(lich gesprochen ist es wahr, dass unsere Zellen sich ständig verändern. Wir müssen unsere Ideen destabilisieren. Zen ist ein Prozess der Dekonstruktion. Alle Ideen werden abgelegt, denn das Kontinuum, das wir »Selbst« nennen, hört nie auf, sich Moment für Moment zu manifestieren. In Wirklichkeit hilft der Dekonstruktionsprozess dem »Selbst«, sich freier auszudrücken, da es mit der Zeit und Übung weniger durch Ideen und Konzepte eingeengt wird.

Brauchen wir Rituale und religiöse Praxis, um die Wahrheit zu finden?
Wir brauchen nichts, um unsere wahre Natur zu finden. Religiöse Traditionen sind dazu da, uns zu erleuchten und werden für diesen Zweck erhalten. Sich zu verbeugen ist beispielsweise eine Übung, den ganzen Weg nach unten zu gehen, seine Stirn auf den Boden zu legen und das Fundament, die Gleichheit aller Dinge, zu verwirklichen. Im Chorgesang wiederum wird nicht deine individuelle Stimme gehört, sondern die vereinten Stimmen aller Sänger. Es ist ein Ausdruck der Einheit in der Vielfalt, es ist Vielfalt in Einheit. Es geht nicht so sehr um Traditionen, sondern darum, was sie in uns erwecken.

Die Geschichte zeigt uns eher eine Schattenseite der Religion. Ist Religion Freund oder Feind?
Leider sind alte Weisheitstraditionen missbraucht worden. Wir können Medizin in Gift verwandeln, wenn wir unserer menschlichen Tendenz folgen, Weisheitstraditionen nicht direkt zu uns durchdringen zu lassen, sondern sie auf eine eigennützige Art und Weise zu interpretieren. Doch diese Traditionen wurden dazu entworfen, um uns  erkennen zu lassen, dass es kein getrenntes »Selbst« gibt. Da es uns extrem schwerfällt, unser »Ich« loszulassen, benutzen wir die Traditionen, um unser »Ich« zu füttern. Wir wollen es nicht loslassen … Echte religiöse Praxis dient dazu, die Einheit aller Dinge zu erkennen. Damit gibt es kein richtig und falsch. Denn Religion in ihrem eigentlichen Sinn kennt keine Opposition: »Eins« hat keine Opposition. Wem sollte sich »Eins« gegenüberstellen? Alle religiösen Praktiken sind geschickte Mittel, damit wir dies selbst erkennen können. Einheit differenziert nicht zwischen Buddhismus, Christen- und Judentum oder Islam. Das ist alles menschengemacht. Wir klettern alle auf denselben Berg und es gibt viele Wege, die zum Gipfel führen. Es ist wahr, dass die Aussicht der unterschiedlichen Wege verschieden ist, doch wir gehen am selben Berg. Wenn ich sage, dass mein Weg besser als deiner ist und ich andere Menschen bekämpfe, vergieße ich Blut am selben Berg. Mein Weg ist in seiner Form anders, aber das bedeutet nichts. Wenn wir üben, tragen wir die Verantwortung, zu sehen, dass wir alle denselben Berg emporklimmen.

Meister Bunan Shido sagte: Stirb, während du lebst, und sei vollkommen tot. Dann tue, was immer du willst – alles ist gut. Was meinte er damit?
Wenn wir erkennen, dass das »Selbst« nichts als eine Anhäufung mentaler Bilder ist, sind wir endgültig von den Fesseln dieser Gedanken befreit und fähig, mit unserer wahren Natur in Einklang zu leben. Die Erkenntnis der vergänglichen Form des Menschseins wird zu einem wunderschönen Ausdruck des Zeitund Formlosen. Friede wird dann verwirklicht, nicht gesucht.


Roshi Eran Junryu Vardi wurde 1964 in Israel geboren und begann seine physisch-spirituelle Erforschung des Lebens als junger Teenager, indem er Zen-Literatur und Meditation studierte sowie Yoga und Judo praktizierte. Nach seinem Pflichtwehrdienst reiste er intensiv. Auf seiner spirituellen Suche begegnete er dem klassischen Buddhismus und Zen in Korea, den Philippinen und Thailand, wo er Gelegenheithatte, sich in der traditionellen Praxis zu versenken. 1989 kam er in Kontakt mit Aikido, einer japanischen Kampfkunst. Durch den tiefen Impuls genährt, die Essenz des Zen in vereinter Bewegung zu verwirklichen, gründete er 1997 ein eigenes Dojo in New Jersey. Später formalisierte er sein Zen-Studium und sein Lehrer und Mentor Roshi Paul Genki Kahn übertrug ihm das Dharma (d. h., erwurde sein Nachfolger). Heute ist Junryu Roshi ordinierter Zen-Priester, Zen-Lehrer und Aikido-Meister (6. Dan). Er lebt in New Jersey, ist verheiratet und Vater dreier Kinder. Junryu bedeutet so viel wie „herzreiner Fluss“.


Die Wahrheit
Ein Philosoph fragte Buddha: „Ohne Worte, ohne Wortlosigkeit, wirst du mir die Wahrheit sagen?“ Buddha blieb still. Der Philosoph verbeugte sich und dankte Buddha, diesem sagend: „Mit deiner lieben Güte habe ich meine Täuschungen beiseite geräumt und den wahren Weg betreten.“ Was hat der Philosoph gesehen?
Vardi: Buddha erkannte die spirituelle Reife des Fragenden und konnte ihn zur vollen Erleuchtung bringen, indem er schwieg. Es gibt vier Stufen spiritueller Reife – die Erleuchtung des Schülers, kein festes »Selbst« zu besitzen, kann dabei der Reaktion eines
Pferdes auf eine Reitgerte gleichgesetzt werden: Eine Person, die die vergängliche Natur des »Ich« beim ersten tiefen Blick in das Menschsein erkennt, entspricht der ersten Stufe – jenem Pferd, das sich alleine beim Schatten der Gerte bewegt. Eine Person, die sie beim Tod eines nahen Freundes erlebt, entspricht dem zweiten Pferd, das sich bewegt, wenn die Gerte die Haut trifft. Die Person, die die Vergänglichkeit erst nach schwerer Krankheit eines Familienmitglieds versteht, entspricht dem dritten Pferd, das erst beim Schmerz rennt, wenn die Gerte ins Fleisch dringt. Und die vierte Person, die erst sieht, wenn der eigene Tod bevorsteht, entspricht dem vierten Pferd, das sich erst dann bewegt, wenn sie den Schmerz der Gerte bis in die Knochen spürt. Es ist wichtig zu beachten, dass das erste Pferd nicht besser als das vierte ist. Auf dem Weg des Gleichmutes gibt es keine Vergleiche und die Praxis ist so individuell wie der/die Praktikzierende.