Wer im Aikido besiegt wird und was Kampfkunst mit Harmonie zu tun hat. Darüber berichtet der Dornbirner Aikido-Meister Jürgen Schwendinger (43), 4. Dan Shidoin. Seit über 20 Jahren geht er den »Weg«.

Text: CHRISTINA VACCARO
Fotos: LE CHUN YE

»Das Ziel ist nicht die Goldmedaille«, sagt Jürgen Schwendinger, wenn er über den Weg des Kriegers spricht. Ai (Harmonie), Ki (Lebensenergie), Do (Weg) ist japanisch und kann als Weg zur Harmonie der Kräfte übersetzt werden. Die defensive Kampfkunst kennt keinen Wettstreit, deshalb ist Aikido auch eine Kampfkunst, und kein -sport. »Im Wettkampf ist das Ego immer sehr groß«, erklärt der erfahrene Lehrer. Es müsse sehr groß sein, um zu gewinnen. Im Aikido sei dies genau umgekehrt: Das Ego werde bekämpft, damit das wahre Selbst hervortreten könne.

Kampf gegen sich selbst
Der Gründer von Aikido, Morihei Ueshiba, lehrte das Prinzip masakatsu agatsu – der wahre Sieg ist der Sieg über sich selbst. Es wird nicht gegen den Angreifer, dem auf der Trainingsmatte begegnet wird, gekämpft, sondern gegen sich selbst. Ein Konflikt entsteht dann, wenn an den eigenen Vorstellungen und Erwartungen festgehalten wird und zwei entgegengesetzte Kräfte aufeinanderprallen. Wird versucht, diesen Konflikt mit Muskelkraft für sich zu entscheiden, kann nur der gewinnen, der stärker als der Gegner ist. Werden hingegen Techniken des Aikido angewandt, dann lässt man den Angreifer ins Leere laufen und lenkt seine Angriffsenergie einfach um. Das heißt, umso heftiger der Angriff ausfällt, desto wirksamer ist die Abwehr.
Um Schläge und Handgriffe abzuwenden, werden im Aikido Rotations- und Hebelbewegungen eingesetzt. Auch ist die Fallschule extrem wichtig. Es gibt viele Würfe, die gekonnte Vorwärts-, Rückwärts- und Flugrollen verlangen, um sich nicht zu verletzen. Bevor ein Schüler aber eine Technik an seinem Gegner ansetzen kann, muss er die Angriffslinie verlassen. Bei einem frontalen Angriff kann man beispielsweise ausweichen, indem eine Drehung erfolgt, die den Angreifer ins Leere laufen und Verteidiger und Angreifer in dieselbe Richtung blicken lässt.
Dieses Prinzip lässt sich auch von der Matte auf das alltägliche Leben übertragen: »Werde ich verbal angegriffen, kann ich diese Attacke an mir abprallen lassen, indem ich eine ,runde Bewegung‘ mache, das heißt, indem ich sage: Jetzt nehme ich einmal den Blickwinkel meines Gegenübers an. Bin ich dazu fähig, sieht die Welt plötzlich ganz anders aus. Oft gibt es keinen Konflikt mehr«, verdeutlicht der langjährige Kampfkünstler.

Hilfe für den Alltag
Auf die Frage, was Kampf- mit Lebenskunst zu tun hat, antwortet Schwendinger: »Aikido kann jedem Menschen, der diesen Weg ernsthaft geht, helfen, sein Leben geordneter und achtsamer zu führen. Auch bieten die Prinzipien des Aikido in verschiedensten Situationen eine Lebenshilfe.«
Vor 21 Jahren begann Schwendinger den Weg zu gehen. Damals brachte der Liechtensteiner Dietmar Näscher Aikido nach Vorarlberg. Schon beim ersten Training beeindruckte den Dornbirner, wie elegant sich der Lehrer über die Matte bewegte und mit welcher Leichtigkeit er seine Angreifer durch die Luft warf. »Ich habe gleich gesehen, dass Angriffsenergie nicht in einem Konflikt endet, sondern schlichtweg umgeleitet wird. Das hat mich wahnsinnig fasziniert«, erinnert sich Schwendinger.

Auf Reisen
Nur ein Jahr später reiste er als junger Aikido-Schüler nach Sacramento (Kalifornien) und praktizierte dort täglich Aikido. Seinem »wahren« Lehrer, der in Birmingham lebt, begegnete er jedoch erst sechs Jahre später.
Auf die Frage, wie er seinen Lehrer gefunden hat, antwortet Schwendinger mit einer alten Kampfkunst-Weisheit: »Wenn der Schüler bereit ist, taucht der Lehrer auf.« In seinem Fall traf er Tony Cassells, 6. Dan Shihan, durch einen Freund. Shihan bedeutet »Lehrer der Lehrer«. Cassells genießt heute international vor allem als großer Waffenmeister Ansehen.
Nicht bekannt ist vielen, dass im Aikido auch mit Waffen trainiert wird. Die Aikidoschule von Chiba Sensei, dem Lehrer Cassells, umfasst gar fünf Säulen: Körperarbeit, Bokken (Holzschwert), Jo (Holzstab), Iaido (Schwertkunst) und Meditation. Chiba Sensei war wiederum einer der langjährigsten Schüler des Gründers, Morihei Ueshiba. Somit führt die Stammlinie auf dem kürzesten Wege von Japan nach Vorarlberg: vom Gründer Morihei Ueshiba aus Japan über dessen treuen Schüler Chiba Sensei und von diesem über Tony Casells aus England zu Jürgen Schwendinger und damit nach Dornbirn.
Cassells unterrichtet traditionelles Aikido. Wenn Schwendinger über seine Begegnung mit Cassells im Jahre 2002 spricht, schwingt in seiner Stimme Begeisterung mit: »Ich habe ihn gesehen und ich habe gewusst: Das ist genau das Aikido, das ich machen möchte und nichts anderes mehr.« Dieses Zusammentreffen sollte weitreichende Folgen haben. Schwendinger wurde Cassells Schüler und eröffnete in der Folge gemeinsam mit seinem Freund Wolfgang Petter ein eigenes »Dojo«, den Aikidoverein Aikikai Dornbirn. Heute verkörpert Schwendinger selbst traditionelles Aikido.
»Aikido kann man nicht auf Wikipedia stellen, um es der Menschheit weiterzugeben. Aikido kann nur auf eine Weise weitergegeben werden: von Lehrer zu Schüler.«
Die Lehrer-Schüler-Beziehung ist extrem wichtig. Der Lehrer holt den Schüler da ab, wo er steht, und führt ihn an seine Grenzen und darüber hinaus – nicht um ihn zu verletzen, sondern um ihn wachsen zu lassen. Aikido ist ein Weg zur Meisterung der Kampfkunst und zur Charakterbildung. Schwendinger sagt dazu:

»Wir sind alle Rohdiamanten, die man erst schleifen muss. Das Training hilft, das Beste aus uns herauszuholen.«

Dafür braucht es Menschen, welche die Leidenschaft zur Kampfkunst teilen. Auf die Frage, was die größte Herausforderung auf seinem bisherigen Weg war, entgegnet Schwendinger: »Das Schwierigste ist natürlich, dran zu bleiben. Dadurch, dass ich Aikido immer geliebt habe, war es für mich nie wirklich schwierig. Ich glaube aber, dass, wenn ich nicht stets mit so tollen Menschen in Kontakt gekommen wäre, die diese Liebe zu Aikido mit mir teilen… ich hätte aufgehört.« Der Lehrer wünscht sich, den traditionellen Stil von Chiba Sensei zu erhalten.

Kindertraining
In der traditionellen Schule des Aikikai Dornbirn praktizieren zurzeit Männer wie Frauen von Anfang 20 bis über 70 Jahre an drei Trainingsabenden pro Woche in der alten Hatler Turnhalle diese Kampfkunst. Am morgigen Donnerstag (6. Oktober 2016) beginnen zudem Kindertrainings. »Das Schöne ist, dass mit vier, fünf Jahren begonnen werden kann, Aikido zu üben – und dies dann bis zum Lebensende. Jeder trainiert seinen physischen Voraussetzungen gemäß und viele Menschen integrieren unsere Prinzipien in ihren Alltag«, weiß Schwendinger.
Der Weg der Kampfkunst endet nie. Das ist auch das Schöne. Wenn ein Ziel gesetzt, der Weg gegangen und das Ziel erreicht ist, tun sich neue Ziele auf. »Das Do im Aikido bedeutet Weg und diesen Weg gehen wir. Die Entwicklung hört niemals auf«, sagt der erfahrene Aikido-Lehrer.


ZUR PERSON
Jürgen Schwendinger, 4. Dan Shidoin
Geb. am: 29. Juli 1973 in Dornbirn
Beruf: Lehrer an der Sportmittelschule Hohenems
Familienstand: verheiratet, drei Kinder
Website des Aikikai Dornbirn
www.aikikaidornbirn.at