Dr. Otto Gehmacher (53), Oberarzt der Palliativstation des LKH Hohenems, spricht über den Umgang mit dem Tod, die würdevolle Begleitung Schwerkranker und die Aufgabe, die Lebensqualität des Menschen bis zuletzt zu verbessern.
Text: CHRISTINA VACCARO
Fotos: FREDERICK SAMS
„Wir sehen die Palliativstation nicht als reine Sterbestation“, erklärt Palliativmediziner Dr. Otto Gehmacher. „Es geht darum, der begrenzten Lebenszeit mehr Inhalt und möglichst viel Lebensqualität zu geben. Die Station zeigt, dass man auch mit einer kurzen Lebenserwartung sehr intensiv leben kann.“ Fast zwei Drittel der Patienten und Patientinnen können nach zwei bis drei Wochen Aufenthalt nach Hause oder ins Pflegeheim entlassen werden, informiert er.
Die Bezeichnung „palliativ“ stammt vom lateinischen Wort pallium, was Mantel bedeutet. Der Mensch wird mit einem Mantel umhüllt – und nicht nur mit einem medizinischen: „Ich sitze hier als ärztlicher Vertreter, aber die Aufgaben der Palliativstation kann weder eine Person noch eine Berufsgruppe alleine bewältigen“, ist sich der leitende Oberarzt bewusst. „Wir arbeiten als Team, und was wir leisten, ist ein Erfolg des Teams. Dazu gehört natürlich die Pflege als ganz wesentlicher Teil. Die Pflegerinnen verbringen wirklich viele Stunden am Krankenbett und stehen sehr intensiv mit dem Patienten in Kontakt.“ Zudem hätten sie das Glück, viele psychosoziale Berufsgruppen im Team zu haben: einen Seelsorger, eine Psychotherapeutin, Physiotherapeuten, eine Sozialarbeiterin und seit einigen Jahren auch eine Musiktherapeutin. Alle diese Menschen würden dazu beitragen, dass der Patient in seinen vielschichtigen Bedürfnissen unterstützt werde.
Loslassen
Diese Bedürfnisse sind sehr unterschiedlich und können sich mit der Zeit auch verändern. Die Interdisziplinarität des Teams soll dafür sorgen, dass der Patient immer dort einen Ansprechpartner findet, wo er gerade steht. Jeder geht anders mit dem Tod um. „Ich glaube, es gibt kein Patentrezept, wie man dem Tod begegnen kann“, meint Gehmacher. Für viele Angehörige sei es das erste Mal, ein nahes Familienmitglied beim letzten Wegabschnitt zu begleiten, und deshalb eine große Herausforderung. „Irgendwann erkennt man als Angehöriger, dass man den Vater, den Ehemann oder das Kind nicht weiter begleiten kann und ihn oder es loslassen muss. Wir sehen oft, dass Angehörige sehr belastet sind.“
Auf der Patientenseite gibt es ganz unterschiedliche Zugänge zum Tod. „Manche können das nahende Ende sehr gut annehmen, sind bereit und vertrauen etwa auf ihren Glauben. Andere haben große, oft auch unausgesprochene Angst davor, was danach sein wird. Dies zeigt sich dann in einer ausgeprägten Unruhe, die die Begleitung schwierig macht“, erklärt der langjährige Palliativmediziner.
Er triffe aber auch auf Menschen, die es schaffen, diesen Weg bewundernswert zu meistern. „Diese Menschen sind für mich Vorbilder, bei denen ich mir denke, meine Güte, ob ich das selber so schaffen könnte. Aber ich glaube, es kann niemand sagen, wie man schlussendlich als Betroffener selbst der drohenden Endlichkeit begegnen wird, wenn es so weit ist“, fügt der Oberarzt nachdenklich hinzu.
Dinge, die mir wichtig sind, mache ich jetzt und verschiebe sie nicht, weil man einfach sieht, dass sich das Leben wirklich von einem Tag auf den nächsten ändern kann
Wertschätzung
Auf die Frage, was es braucht, um würdevoll gehen zu können, antwortet Gehmacher überzeugt: „Es ist ganz wichtig, dass der Patient nach wie vor als Person wertgeschätzt wird. Wir haben immer wieder Menschen, die sehr vereinsamt sind und sich mit ihren Familien zerstritten haben. Da ist es wichtig, dass diese Menschen wieder Geborgenheit finden und dass ihnen vermittelt wird: ‚Du bist als Mensch wertvoll und hast auch etwas geleistet.‘“ Damit erhalte man die Würde. Auch die Selbstbestimmung bis zum Schluss sei entscheidend. „Man darf nicht entmündigt werden und meinen, dass man nur noch aus Stuhlabwischen und Verbandswechsel besteht. Dass man nach wie vor als Mensch mit seiner Würde gesehen wird, ist, glaube ich, etwas ganz Wichtiges.“
Die Behandlung und Begleitung von Menschen mit einer weit fortgeschrittenen, nicht heilbaren Erkrankung kennt auch Erfolgserlebnisse für Ärzte und Pfleger und nicht zuletzt für den Patienten: „Ein Erfolg ist sicherlich, wenn ein Patient, der monatelang von starken Schmerzen geplagt wurde und nächtelang nicht schlafen konnte, nach ein, zwei Tagen auf der Palliativstation sagen kann, er konnte endlich wieder einmal durchschlafen, und die Schmerzen sind erträglich, sodass er wieder Gedanken fassen und am Leben teilnehmen kann. Oder auch, wenn Patienten, die Wochen oder Monate im Bett verbracht haben, wieder ‚gehen lernen‘ oder zumindest in einen Stuhl mobilisiert werden können.“ Es seien kleine Fortschritte, die für Menschen mit langer Krankengeschichte große Erfolge darstellten Das seien manchmal alltägliche Dinge, wie dass ein Mensch eine Mahlzeit genussvoll zu sich nehmen und sagen kann, heute hat mir seit Wochen wieder einmal das Essen geschmeckt. „Solche ‚kleinen‘ Erfolgsgeschichten freuen das ganze Team – wenn man den Menschen beistehen und ihnen eine Linderung verschaffen kann“, schildert Gehmacher, was ihm an dieser anspruchsvollen Tätigkeit gefällt.
Endlichkeit
Täglich mit schwerkranken Menschen zu tun zu haben, gibt dem Arzt und Familienvater eine erhöhte Wertschätzung fürs eigene Leben mit. „Dinge, die mir wichtig sind, mache ich jetzt und verschiebe sie nicht, weil man einfach sieht, dass sich das Leben wirklich von einem Tag auf den nächsten ändern kann. Ich denke, es gibt dem Leben einen gewissen Tiefgang, wenn man im Beruf immer wieder mit dieser Endlichkeit konfrontiert ist – man kommt gar nicht in Versuchung, auf der Oberfläche dahinzutreiben. Die Patientenkontakte machen dir bewusst, du könntest auch auf der anderen Seite stehen …“
Dem Oberarzt, der seit der Gründung der Palliativstation 2003 die Station leitet, gelingt es, nicht nur Bilder vom Sterben mit nach Hause zu nehmen. In der Zeit mit seiner Familie kann er durchaus auch völlig abschalten, und sie gibt ihm viel Rückhalt für seinen Beruf. Er fügt jedoch klar hinzu: „Das Sterben und der Tod sind etwas, was nicht Routine werden kann und in meinen Augen nicht werden sollen. Wenn einen das Sterben selbst nicht mehr berührt, dann ist man hier nicht am richtigen Ort.“
Ausbau
Zurzeit gibt es auf der Palliativstation im Landeskrankenhaus Hohenems zehn Betten. Ein Ausbau der Station ist jedoch in Sicht: bis Ende 2017, Anfang 2018 sollen sechs Betten hinzukommen. Der Bedarf ist groß – es gibt eine Warteliste, auf der auch immer wieder Menschen versterben. Im selben Zeitraum soll in Bregenz eine Hospizstation entstehen, in der Menschen wirklich bis zuletzt bleiben können.
Neben der Erweiterung der Palliativstation wünscht sich der leitende Oberarzt außerdem, noch mehr Inhalte der Palliativmedizin in der Ausbildung an junge Ärzte und Ärztinnen weiterzugeben. Damit die Palliativmedizin einen höheren Stellenwert im schulmedizinischen Kontext erhält. „Und dass wir weiter in einem guten Team und einem freundschaftlichem Miteinander die vielschichtigen Aufgaben der Palliativstation bewerkstelligen können“, sagt Gehmacher abschließend.
Zur Person
OA Dr. Otto Gehmacher
Geboren am 21. Februar 1963, Studium der Medizin in Innsbruck.
Seit 2003 Leitender Oberarzt der Palliativstation im LKH Hohenems
Familienstand: verheiratet, drei Kinder.